Bewegung trotz Sportdispens – activdispens.ch

Claudia Diriwächter1, Christoph Wechsler2
1 Wissenschaftliche Mitarbeiterin Studiengang Physiotherapie BSc, BZG Bildungszentrum Gesundheit Basel-Stadt; MSc Sportphysiotherapy, BSc Physiotherapie. Mitglied Projektleitung; info@activdispens.ch.
2 Verantwortlicher Weiterbildung im Schweizerischen Verband für Sport in der Schule (www.svss.ch); eidg. diplomierter Sportlehrer II, Gymnasium Oberwil, BL. Mitglied Projektleitung; info@activdispens.ch.

Abstract

Objective: The objective of the project is to actively integrate students partially dispensed from school sport through an adapted form of sports dispensation as well as a customized selection of exercises.
Method: By means of two online questionnaires, both structured similarly with respect to questions and main themes, a needs assessment was carried out. The questionnaires were sent by e-mail to 2600 members of three Swiss medical associations, doctors of the University Children’s hospital of Basel as well as to approximately 4000 sports teachers of the Swiss organization for sports at school. The addressees were asked to complete the questionnaire within two weeks. The sample size was n=87 (doctors, return rate of 3%) and n= 213 (sports teachers, return rate of 5%).
A catalog of 54 exercises was developed using physiotherapeutic and school sport specific literature. The exercises were picturised and were published together with the dispensation form on a newly designed website.
Results: Feedback from online questionnaires showed the necessity for a consistent partial dispensation with precise information on permitted and to be avoided stress. Furthermore it is important to clarify which parts of the body are allowed to be stressed or must not be stressed. Additionally the results made it clear that although the form of dispensation should show all relevant information for sports teachers, the time needed to fill in this form should be minimal. After the pilot phase the interest in the subject among doctors and sports teachers was great. However their cooperation turned out to be the most difficult and challenging part, with regard to integration of the project across the country.
Discussion: Sports dispensations are an on-going very important topic in Swiss schools. The respondent group of doctors mostly agree on the layout of such a dispensation form and content needed. The same applies to sports teachers. However the most difficult part when talking about sports dispensations appears to be the collaboration of both groups and the functioning as a unity.

Zusammenfassung

Ziel: Ziel des Projekts ist, teilzeitdispensierte Schülerinnen und Schüler mittels eines angepassten Sportdispensationsformulars und eines angepassten Übungskataloges aktiv in den Schulsportunterricht zu integrieren.
Methode: Mittels zwei Online-Fragebögen, welche in Bezug auf die Fragestellungen und die Hauptthematiken ähnlich aufgebaut waren, fand eine Bedarfsanalyse statt. Die Fragebogen wurden zusammen mit einem Begleitschreiben per Mail an ca. 2600 Mitglieder von drei schweizerischen Ärztegesellschaften, an die Ärzte des Universitäts-Kinderspitals beider Basel sowie an ca. 4000 Sportlehrpersonen des Schweizerischen Verbands für Sport in der Schule versandt. Die angeschriebenen Personen hatten zwei Wochen Zeit, den Fragebogen zu beantworten. Die Stichprobengrösse der Ärzte betrug n=87, was einer Rücksendequote von 3% entspricht. Bei den Sportlehrpersonen betrug die Stichprobengrösse n= 213, was 5% der Grundgesamtheit entspricht.
Weiter wurde mithilfe physiotherapeutischer und schulsportspezifischer Fachliteratur ein Übungskatalog mit insgesamt 54 Übungen erstellt, verfilmt und abschliessend mit den entwickelten Dokumenten auf einer eigenen Webseite veröffentlicht.
Ergebnisse: Die Rückmeldungen der Online-Fragebögen zeigten, dass ein einheitliches Sportdispensationsformular in Bezug auf Teilzeitdispensationen sehr präzise Angaben zur erlaubten und nicht erlaubten Belastung aufweisen muss und hervorzuheben ist, welche Körperregionen belastet oder entlastet werden müssen. Weiter zeigte sich, dass dieses Dispensationsformular mit möglichst wenig Zeitaufwand auszufüllen ist und trotzdem die wichtigsten Informationen für Sportlehrpersonen enthalten muss.
Nach der ersten Pilotphase war das Interesse am Thema bei Ärzten und Sportlehrpersonen gross. Als schwierig stellte sich die Zusammenarbeit der Sportlehrpersonen mit den Ärzten dar, damit das Produkt flächendeckend in der Praxis integriert werden kann.
Diskussion: Das Sportdispensationswesen an schweizerischen Schulen ist weiterhin ein anzugehendes und wichtiges Thema. Die befragten Ärzte sind sich grösstenteils einig, wie ein solches Formular auszusehen hat und was für Voraussetzungen erfüllt sein müssen. Dies ist auch bei den angefragten Sportlehrpersonen der Fall. Schwierig wird das Angehen von Sportdispensationen, wenn diese beiden Berufsgruppen als Einheit funktionieren müssen.

Einführung

Grundgedanke des Projektes ist die aktive Integration teilzeitdispensierter Schüler in den Sportunterricht.
Initiant der Projektidee «Bewegung trotz Sportdispens» ist die Schweizerische Arbeitsgruppe für Rehabilitationstraining (SART). Unterstützt wird das Projekt durch den Schweizerischen Verband für Sport in der Schule (SVSS) und das Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB).
«Eine völlige Freistellung vom Sport in der Krankheits-, Verletzungs- oder Behinderungsphase widerspricht in zahlreichen Fällen den heutigen Kenntnissen und Erfahrungen der Sportmedizin» [1]. Schon vor 10 Jahren haben Hebestreit et al. [1] die Wichtigkeit von Schulsport und der Bewegung während Krankheits- oder Verletzungsphasen hervorgehoben. Heutzutage ist die Relevanz von Schulsport und der damit verbundenen Bewegung bei Kindern und Jugendlichen nicht weniger geworden. Unsere Gesellschaft wird immer mehr durch Computer, Internet und andere Medien beeinflusst, und unser Alltag hat sich in den letzten Jahren vermehrt hin zu passiver Haltung verändert. Aber nicht nur im Berufs- und Erwachsenenleben ist dieser Wandel zu spüren, auch Kinder und Jugendliche kommen immer mehr in eine Passivität. Die sich verschlechternde Gesundheit, wie auch der Bewegungsmangel bei Kindern und Jugendlichen, ist ein Dauerthema in Zeitungen und Zeitschriften. Zusätzlich finden Kinder generell immer weniger Spiel- und Bewegungsräume.
In diesem Zusammenhang nimmt vor allem der obligatorische Schulsport eine zentrale Rolle ein. Dieser kann zu einer Unterbrechung des Teufelskreises führen. Das Ziel des Schulsports könnte nach Kurz [2] wie folgt lauten: «Schüler lernen aus der Reflexion ihrer Erfahrungen, welcher Sport ihnen, gesundheitlich betrachtet, gut tut. In diesem Prozess differenzieren sie ihr Gesundheitsverständnis und ihre Vorstellungen von den Wirkungen des Sports. Zugleich erweitern sie ihre Handlungsfähigkeit, indem sie lernen, Sport gesundheitsbewusst zu betreiben, gesundheitlich zu beurteilen und gegebenenfalls auch aus gesundheitlichen Gründen zu verändern.»
Aus diesem Blickwinkel ist Schulsport das perfekte Mittel, um dem Bewegungsmangel und dem verminderten Bewusstsein gegenüber der Gesundheit unserer Kinder und Jugendlichen Einhalt zu gebieten. Doch was geschieht, wenn Kinder und Jugendliche aufgrund von Verletzungen oder Krankheitssymptomen für eine bestimmte Zeit nur bedingt am Schulsportunterricht teilnehmen können?

Problematik

Auch wenn in beiden Berufen, dem des Arztes und dem der Sportlehrperson, die Gesundheit und deren Förderung zugrunde liegen, zeigen sich unterschiedliche Voraussetzungen in Bezug auf Sportdispensationen. Sportlehrpersonen möchten Schüler, wenn immer möglich, aktiv in den Unterricht integrieren und benötigen dabei klare Anweisungen von ärztlicher Seite. Ärzte hingegen haben wenig Zeit, um Sportdispensationen auszustellen und möchten dies in kürzester Zeit erledigen. Weiter tragen sie die Verantwortung für den Patienten und möchten auf keinen Fall, dass sich die Situation durch inkorrekte Bewegung und Aktivität verschlechtert oder eine erneute Verletzung auftritt. Diese unterschiedlichen Voraussetzungen erschweren die Entwicklung eines einheitlichen, für beide Seiten optimal anwendbaren Sportdispensationsformulars und der damit verbundenen Möglichkeit, Teilzeitdispensationen im gewünschten Kontext ausstellen beziehungsweise angehen zu können.
Ein erstes Teilziel des Projektes lag somit darin, heraus­zufinden, welche Voraussetzungen in Bezug auf die Sport­dispensation aus ärztlicher Sicht und aus Sicht von Sport­lehrpersonen erfüllt sein müssen, um vermehrt Teil­-
zeitdispensationen auszustellen und um teilzeitdispensierte Schüler aktiv in den Sportunterricht zu integrieren. Die erfragten Rückmeldungen sollten anschliessend dazu dienen, ein einheitliches Sportdispensationsformular zu entwickeln, welches die Teilzeitdispensationen und die aktive Integration teilzeitdispensierter Schüler im Schulsport positiv unterstützt.
Ein weiteres Ziel war die Erstellung eines Übungskataloges, welcher einfach und mit wenig Aufwand und Vorbereitungszeit die Sportlehrpersonen unterstützen soll, teilzeitdispensierte Schüler aktiv in den Schulsportunterricht zu integrieren.

Methodik – Bedarfsanalyse und Dispensationsformular

In einer ersten Phase wurde mittels zwei Online-Fragebögen, welche auf der Online-Plattform «Q-Set – Fragen kostet nichts» [3] persönlich erstellt wurden, eine Bedarfsanalyse durchgeführt. Die Online-Fragebögen waren in Bezug auf die Fragestellungen und die Hauptthematiken ähnlich aufgebaut. Der eine Fragebogen wurde zusammen mit einem Begleitschreiben per Mail an ca. 2600 Mitglieder von drei schweizerischen Ärztegesellschaften sowie an die Ärzte des Universitäts-Kinderspitals beider Basel versandt. Der andere Fragebogen wurde zusammen mit einem Begleitschreiben per Mail an ca. 4000 Sportlehrpersonen des Schweizerischen Verbands für Sport in der Schule versandt. Die angeschriebenen Personen hatten zwei Wochen Zeit, um den Fragebogen zu beantworten. Die Stichprobengrösse der Ärzte betrug n=87, was einer Rücksendequote von 3% entspricht. Bei den Sportlehrpersonen betrug die Stichprobengrösse n= 213, was 5% der Grundgesamtheit entspricht.
Mit Hilfe der Rückmeldungen der Ärzte und Sportlehrpersonen wurde im Anschluss an die Bedarfsanalyse ein Schulsportdispensationsformular (Abb. 1) entwickelt, welches die Bedürfnisse der Ärzte und Sportlehrpersonen zum grössten Teil zu decken versuchte.

Abb. 1
Abbildung 1: Dispensationsformular

Methodik – Aufbau des Übungskataloges

Basierend auf das Dispensationsformular wurde ein Übungskatalog mit insgesamt 54 Übungen erstellt. Die Übungen wurden mithilfe von physiotherapeutischer und schulsportspezifischer Fachliteratur zusammengetragen. Wichtig bei den einzelnen Übungen war, dass diese einfach und ohne viel Instruktion (fast selbsterklärend) durchgeführt werden können. Weiter dürfen die Übungen keine erneuten Verletzungen hervorrufen oder die leichten Erkrankungen verstärken. Zusätzlich war wichtig, dass für die Durchführung der Übungen fast ausschliesslich Material benötigt wird, welches in allen Schulsporthallen zu finden ist.
Nach Erstellen des Übungskataloges wurden die 54 Übungen durch ein professionelles Filmteam verfilmt. Als Probanden stellten sich eine Schülerin und ein Schüler des Gymnasiums Oberwil im Kanton Baselland zur Verfügung. Zusätzlich wurden alle Übungen beschreibend erklärt und als PDF-Dokumente (Abb. 2) festgehalten.
Zur besseren Übersicht wurde weiter ein Poster (Abb. 3) erstellt, welches alle Übungen auf einen Blick zeigt.
Abschliessend konnten alle erstellten Unterlagen sowie Hintergrundwissen und Anwendungsmöglichkeiten auf einer eigenen Webseite implementiert werden [4]. Dies ermöglicht bei Benutzung mit Internetzugang, die gewünschten Übungen direkt online ansehen und mit Hilfe der Videos ausführen zu können. Sollte kein Internetzugang zur Verfügung stehen, können die Übungen als PDF-Dokumente ausgedruckt und anhand der beschriebenen Anleitung durchgeführt werden.

Abb. 2
Abbildung 2: Beispielübung Gewicht heben

 

Abb. 3
Abbildung 3: Poster

Aufbau Übungskatalog

Der Übungskatalog ist in zwei Hauptkategorien eingeteilt: «Verletzungen» und «Krankheit». Die Kategorie Verletzungen teilt sich weiter in drei Unterkategorien auf:
– Untere Extremität (bei Verletzung der oberen Extremität)
– Obere Extremität (bei Verletzung der unteren Extremität)
– Rumpf (je nach Art der Verletzung betroffene Extremität nicht einbeziehen)

Die Kategorie Krankheit wiederum ist in weitere 5 Unterkategorien aufgeteilt:
– Kopfschmerzen
– Menstruationsbeschwerden
– Unwohlsein
– Unspezifische Rückenschmerzen
– Erkältung ohne Fieber
– Allergien

Weiter ist jede Übung bestimmten Konditionsfaktoren bzw. der Koordination oder der Entspannung zugeordnet. Die Kennzeichnung erfolgt mittels Farben:
– Blau: Ausdauer
– Rot: Kraft
– Gelb: Beweglichkeit
– Grün: Koordination
– Pink: Entspannung

Um die Übungen zielführend ausüben zu können, sind bei jeder Übung Belastungsvariablen vermerkt. Die Ausführung erfolgt in gleichbleibend ruhigem Rhythmus und nach Möglichkeit beidseitig. Zur besseren Identifizierung der Übung sind diese betitelt und nummeriert.

Pilotphasen

Nachdem die Webseite bereit zur Veröffentlichung war, wurde in den Kantonen Basel-Stadt (BS) und Baselland (BL) eine 1. Pilotphase durchgeführt. Diese dauerte von Oktober 2013 bis Januar 2014. 15 Schulen (Sekundarstufe I und II sowie Berufsschulen) der Region BS / BL haben sich bereit erklärt, in dieser Phase den Übungskatalog im Unterricht auszuprobieren und, wenn möglich bei teildispensierten Schülern, anzuwenden.
Weiter wurden das Dispensationsformular sowie ein Begleitflyer an einen Teil der Ärzteschaft der Region verschickt, mit der Bitte, dieses gegebenenfalls zu benutzen.
Im Anschluss an die 1. Pilotphase wurde eine 2. Pilotphase angedacht. Diese sollte in einzelnen anderen Kantonen stattfinden und die Einbindung von Schul- oder Allgemeinärzten gewährleisten. Kanton Zug und Fribourg haben sich sofort bereit erklärt, bei der 2. Pilotphase mitzuwirken und das Projekt in ihren Kantonen flächendeckend unter den Schulärzten und Sportlehrpersonen zu verbreiten und anzuwenden.
Damit das Projekt in näherer Zukunft nicht nur die deutschsprachige Schweiz erreicht, sondern auch gesamtschweizerisch verbreitet werden kann, wurden die entwickelten Dokumente und die Webseite ins Französische und Ita­lienische übersetzt und implementiert.

Ausblick

Mit Unterstützung der Kantone Fribourg und Zug wird nach ca. einjähriger Pilotphase die Anwendungsmöglichkeit sowie die Durchführbarkeit des Übungskatalogs und des Dispensationsformulars im Frühjahr / Sommer 2016 evaluiert. Anhand der Auswertung werden anschliessend weitere Schritte für die Verbreitung des Projekts «Bewegung trotz Sportdispens» in die Wege geleitet.
Da sich der zunehmende Bewegungsmangel und die Passivität im Alltag bei Kindern und Jugendlichen vermutlich in den nächsten Jahren nicht verbessern, sondern tendenziell eher noch verschlechtern wird und sich Menschen auch in Zukunft verletzen oder krank werden, wird das Thema der Dispensation im Schulsport weiter aktuell bleiben. Man darf gespannt sein, inwieweit das Projekt «Bewegung trotz Sportdispens» diese Thematik beeinflussen wird oder vielleicht sogar als Meilenstein zu einer positiven Entwicklung beitragen kann.

Korrespondenzadresse

Claudia Diriwächter
BZG Bildungszentrum Gesundheit Basel-Stadt
Erziehungsdepartement Basel-Stadt
Binningerstrasse 2, 4142 Münchenstein
Tel. +41 (0)61 417 78 12
E-Mail: claudia.diriwaechter@bzgbs.ch

Referenzen

  1. Hebestreit H., Ferrari R., Meyer-Holz J., Lawrenz W. & Jüngst B.-K. Kinder- und Jugendsportmedizin, Grundlagen, Praxis, Trainingstherapie, In: Thieme, Stuttgart, New York;2002.
  2. Kurz, D. Von der Vielfalt sportlichen Sinns zu den pädagogischen Perspektiven im Schulsport. In: D. Kuhlmann & E. Balz (Hrsg.), Sportpädagogik. Ein Arbeitstextbuch, Hamburg: Czwalina, 2008, p162-172.
  3. Goldecker GmbH. Q-SET Fragen kostet nichts. http://www.q-set.de/ (Zugriff am 30.06.2015).
  4. Bewegung trotz Sportdispens. activdispens.ch. http://activdispens.ch/. (Zugriff am 29.06.2015).

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