Vor ziemlich genau 30 Jahren begab sich der französische Kniechirurg und Orthopäde Guy Liorzou auf eine besondere Studienreise. Er beklagte, dass sich die orthopädische Chirurgie und die orthopädischen Chirurgen durch die «Explosion an neuen Technologien» zunehmend vom Arzt weg und zum technischen Angestellten hin entwickelten. So unternahm er eine Reise, bei der er die «godfathers» der Kniechirurgie – Werner Müller, Roland Jakob, Henri Dejour, John Lachman, Robert Larson, David MacIntosh, Donald Slocum u.v.m – zum Teil monatelang besuchte und beobachtete. Als erfahrener Chirurg wollte er aber keine Operationstechniken lernen, sondern verbrachte seine Zeit damit, die einzelnen Schritte und Handgriffe der Untersuchung zu studieren, fotografieren, zu zeichnen und unzählige Male zu hinterfragen und zu vergleichen. Aus diesen vielen verschiedenen Herangehensweisen destillierte er für jeden Test die zugrunde ­liegende Logik, welcher (Patho)mechanismus wie getestet werden kann, um zu zeigen, dass auch in der klinischen Untersuchung viele Wege nach Rom führen und dass Tests nicht um der Teste willen gemacht werden müssen. Aus dieser Reise entstand sein Buch «Le genou ligamentaire. Examen clinique», das nicht nur ein unglaublich liebevoll detailliertes Bild der Band(in)stabilität des Knies gibt, sondern auch ein herausragendes Beispiel ist, wie die Untersuchung eines Patienten erfolgen kann und sollte.
Wie Lirozou vor 30 Jahren, sind wir auch heute mit einer Übermacht an technischen Einrichtungen konfrontiert, die wir aus forensischen Gründen und wegen Patientenpräferenz nutzen (müssen). Kaum ein Patient (oder Gutachten) will sich heute auf die manuelle Untersuchung verlassen, und es ist zunehmend seltener geworden, dass Patienten nicht schon zur Erstvorstellung mindestens ein MRT mitbringen. Daraus erwachsen aber zwei Probleme: Erstens sind MRT, CT, selbst die Arthroskopie nicht die unfehlbaren Untersuchungen bzw. objektiven Wahrheiten, als die sie wahrgenommen werden. Zweitens laufen wir Gefahr, die klinische Untersuchung zur lästigen Nebenbeschäftigung bis zum MRT-Befund verkommen zu lassen.
Hier knüpft mein eigener «Liorzou-Moment» an. Als junger Oberarzt fragte ich Werner Müller, ob vor einer Umstellungsosteotomie der Tibia eher ein MRT, ein CT oder eine Arthroskopie gemacht werden sollte, um die weiteren Schritte der Operation zu planen. Nach einer Sekunde erwiderte er, ich solle das behandeln, was den Patienten stört, und mich nicht zu sehr von MRT und Konsorten ablenken lassen. Und was den Patienten stört, kann ich in der Untersuchung, die natürlich auch eine Anamnese beinhaltet, herausfinden, mit welchen klinischen Tests auch immer nötig.
Im aktuellen Issue der Swiss Sports & Exercise Medicine finden Sie Artikel zum Schwerpunkt klinische Untersuchung. Es sind nicht alle Untersuchungen und alle Tests aufgeführt, und sicher haben Sie andere Lieblingstests und «go-to»-Untersuchungen als die Autoren. Aber hier kann uns Guy Liorzou immer noch als Vorbild dienen, indem wir nicht eine willkürliche Batterie von Tests stumpf anwenden, sondern versuchen, die Funktion und Dysfunktion der uns anvertrauten Gelenke und Organe zu verstehen und durch angemessene Provokation zu testen und zu evaluieren. Und am Schluss das zu behandeln, was den Patienten stört, auch wenn es nicht im MRT-Befund aufscheint.

Korrespondenzadresse

Patrick Vavken
PD Dr. med.
alphaclinic Zürich
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