Stellungnahme GPS

Marx-Berger Daniela
FMH Nephrologie Ostschweizer Kinderspital St. Gallen

Vor einigen Monaten meldete sich eine Abiturientin bei mir mit der Bitte um ein Interview für ihre Maturaarbeit. Thema ihrer Arbeit war das (mögliche) Verbot von Kopfbällen bei Kindern und Jugendlichen im Fussball. Kurz darauf stellte sich im Rahmen der Generalversammlung der Gesellschaft für pädiatrische Sportmedizin (GPS) dieselbe Frage: Wieso sind in England/USA Kopfbälle im Jugendbereich verboten, in Deutschland und der Schweiz aber nicht? Grund genug, sich das Thema etwas genauer anzuschauen und zu versuchen, auf diese Fragen möglichst Evidenz-basierte Antworten zu finden.
Fussball ist weltweit der populärste Sport mit mehr als 265 Millionen Spielern, wovon 22 Millionen in den Jugendbereich gehören [1]. Kopfbälle werden bewusst eingesetzt, um das Spiel zu beeinflussen. Die Kopfballtechnik ist ein elementarer Bestandteil der Sportart Fussball. Auch ist es im Sport einzigartig, dass ein Kopfball eingesetzt wird, um das Spiel zu beeinflussen. In der Literatur findet sich jedoch immer wieder die Frage, ob Kopfbälle Auswirkungen auf die Hirnfunktionen und Hirnstrukturen haben [2–6]. In den USA wurde auf Klage von Fussballkinder-Eltern das Kopfballspiel für Kinder bis 11 Jahre verboten. Angst vor Gehirnerschütterungen bei den noch wenig entwickelten Kinderhirnen war der Antrieb der Eltern – aufgeschreckt durch Fälle von Hirnerkrankungen bei Sportlern, verursacht offenbar durch Gehirnerschütterungen bei der Ausübung des Sports. Dabei besteht die Gefahr, dass Gehirnerschütterungen und die Ausübung von Kopfbällen gleichgesetzt werden und aus­serdem Erkenntnisse aus anderen Sportarten mit hohem Risiko für Kopfverletzungen (z.B. American Football, Rugby, Eishockey) auf den Fussball übertragen werden. Allerdings haben auch die Fussballligen von England, Schottland und Irland 2020 beschlossen, dass unter 11 Jahren kein Kopfballtraining stattfindet und von 12–16 Jahre nur limitiert. An Wettkämpfen hingegen ist das Kopfballspiel jedoch nicht verboten mit der Begründung, dass in dieser Altersklasse nur wenige Kopfbälle im Match gespielt werden.
Nina Feddermann-Demont und Alexander Tarnutzer haben 2016 eine Metaanalyse zum Thema «Effekte des Kopfballspiels auf Hirnfunktionen und -strukturen» gemacht [7]. In einer Literaturrecherche wurden zwischen 1.1.2020 und 17.11.2015 118 Artikel zu dem Thema identifiziert, wovon 39 (33%) die Einschlusskriterien (ausschliesslich Originalarbeiten) erfüllten. Ihre Schlussfolgerungen waren, dass zu diesem Zeitpunkt nicht eindeutig erwiesen war, dass das Kopfball­spiel weder akute Effekte noch Langzeit-Effekte auf Hirnfunktionen oder -strukturen hat. Die Ergebnisse der Studien waren dabei zum Teil sehr widersprüchlich. Häufige Probleme der Studien waren geringe Fallzahlen, ungenügende Methodik, um eine Kausalität herzustellen, ein Recall-­Bias (Fragebögen retrospektiv zur Anzahl von Kopfbällen und Gehirnerschütterungen) und inadäquate Definitionen. Eine wichtige Herausforderung in der Durchführung von Studien zu Langzeit-Effekten ist, dass eine sehr lange Latenz zwischen dem Kopfballspiel und dem Krankheitsausbruch liegt. Bei prospektiven Studien wäre eine grosse Stichprobe erforderlich, um wenige Fälle zu identifizieren. Ein Beispiel für die konträren Resultate zeigt sich an folgenden zwei Studien: Koerte et al. [6] stellte bei 15 ehemaligen Fussballprofis 2016 eine verminderte Dicke des cerebralen Kortex im MRI fest. Oliveira et al. stellte dagegen bei 375 erwachsenen Amateur-Fussballspielern fest, dass weder Kopfbälle noch Gehirnerschütterungen zu einer verminderten Kortexdicke oder einem verminderten Hirnvolumen im MRI geführt hatten [8].
Neben der Frage nach Langzeitfolgen stellt das Kopfball­spiel auch eine mögliche Ursache für eine akute Kopfverletzung dar. Im Kindesalter wurde jedoch als Hauptmechanismus für eine Kopfverletzung der Kontakt mit einer Oberfläche (Spielfeld oder Hallenboden), dem Torpfosten oder der Hallenwand bzw. der Kontakt mit einem anderen Spieler definiert [9]. Absichtliches Kopfballspiel ist selten Grund für eine Commotio cerebri, der Kampf um einen Ball in der Luft und der mögliche Kopf-zu-Kopf- oder Ellen­bogen-zu-Kopf-Mechanismus ist viel häufiger Ursache. Diese fehlende Unterscheidung macht die epidemiologische Interpretation von Studien oft schwierig.
Trotzdem gibt es Studien, die festgestellt haben, dass in 25–30% der Gehirnerschütterungen im Fussball der Kopfball auslösend war und in 62–78% der versehentliche Kopf-zu-Kopf-Kontakt [10].
Kontos et al verfassten ebenfalls eine Metaanalyse (28 eingeschlossene Studien) mit der Frage nach Auswirkungen von Kopfbällen im Fussball auf neurokognitive Funktionen [11]. Ihre Konklusion war, dass es keine empirische Evidenz für potenzielle negative Effekte von Kopfbällen im Fussball gibt, insbesondere in Bezug auf neurokognitive Funktionen oder Commotio-Symptome. Sie schlossen daraus, dass ein Kopfballverbot aufgrund der vorliegenden Daten aktuell verfrüht sei. Es brauche mehr Studien, dabei müssten bessere Daten vorliegen, um Kopfbälle und Gehirnerschütterungen auseinanderzuhalten. Sie schlagen auch vor, zu untersuchen, ob die Regeländerungen in den USA (Kopfballverbot für Kinder/Jugendliche) zu weniger Kopfball-assoziierten Gehirnerschütterungen führen.
In New York fand 2017 ein Kongress zum Thema «Kopfverletzungen im Fussball: von der Wissenschaft aufs Feld» statt. Der Konsensus-Artikel von Putukian et al. [12] fasst die Ergebnisse dieses Kongresses zusammen:
1. Kopfverletzungen im Fussball und insbesondere Gehirnerschütterungen sind ein relevantes Thema.
2. Die Mehrzahl der Gehirnerschütterungen im Fussball passiert während des Kampfes in der Luft, nicht beim willentlichen Kopfballspiel.
3. Es gibt limitierte biomechanische Daten betreffend der Kräfte, welche beim Kopfballspiel einwirken, aber die Kräfte scheinen geringer zu sein als z.B. in Sportarten wie American Football oder Eishockey.
4. Die Erkennung einer Commotio von allen Beteiligten (Trainer, Schiedsrichter, Athleten, medizinisches Personal) ist immens wichtig.
5. Die Erkennung/Diagnostik/Therapie soll gemäss aktuell geltenden Guidelines erfolgen.
6. Zum jetzigen Zeitpunkt zeigt die Mehrheit der verfügbaren Daten sowohl bei Adoleszenten als auch bei Erwachsenen keinen Hinweis auf ein negatives Langzeit-Outcome neurokognitiver Funktionen vom reinen Kopfballspiel. Es gibt keine Daten für Kinder/Jugendliche. Die einzigen Daten, die es gibt, beziehen sich auf Kopfschmerzen.
7. Es gibt keine prospektiven Daten, die zeigen, dass mögliche neurodegenerative Veränderungen, z.B. die chronische, traumatische Encephalopathie (CTE = chronic traumatic encephalopathy), durch das Fussballspiel ausgelöst werden.
8. Verletzungsprävention ist ein wichtiges Feld für zukünftige Forschung. Weiche Kopfschütze können evtl. das Auftreffen von Kräften bei «steifem Impact» (Kopf-zu-Kopf, Kopf-zu-Pfosten) reduzieren. Sie scheinen jedoch weniger hilfreich zu sein beim Kopfballspiel. Viele dieser Daten stammen aus dem Labor und sind auf dem Feld noch nicht erprobt.
9. Regeländerungen und Regeleinhaltungen sind essenziell in der Verletzungsprävention. Dazu gehört z.B. die Ahndung des «hohen Ellenbogens» mit der roten Karte. Aus­serdem gehören dazu aber auch neuere Regeln wie genügend Zeit für die medizinische Evaluation eines Spielers mit Kopfverletzung, die Möglichkeit des Auswechselns, ohne dass diese Auswechslung zählt in Bezug auf die maximal mögliche Anzahl an Auswechslungen.
10. Zusammenfassend muss gesagt werden, dass willent­liches Kopfballspiel sehr selten eine Commotio auslöst.
11. Athleten, Eltern, Trainer, Schiedsrichter, Administratoren und Gesundheitspersonal sollen sich zusammenschliessen und die Wichtigkeit des «Fair-Plays» betonen, um Fussball auf allen Ebenen einen sicheren Sport sein zu lassen.

Gerne diskutiert wird auch die Frage, ob die Kräftigung der Nackenmuskulatur protektiv gegen Kopfverletzungen wirkt. Die Daten sind jedoch kontrovers. Man kann die Nackenmuskulatur trainieren und würde auch vermuten, dass dies zu einer Reduktion der Beschleunigung während eines «impacts» führt, aber die alleinige vermehrte Kraft führt noch nicht zu einer verbesserten Kopf-Stabilisation während des Kopfballspiels. Eine randomisierte klinische Studie zum Thema Kräftigung der Nackenmuskulatur und anschliessendem Auftreten von Gehirnerschütterungen gibt es noch nicht [12].
Die UEFA hat als Empfehlung zu diesem Thema die «UEFA Heading Guidelines for youth players» [14] herausgegeben. Sie sollen als Empfehlung gelten, wie das Kopfballspiel während Training und Match im Jugendfussball gehandhabt werden soll. Die UEFA ermutigt die nationalen Verbände, diese Guidelines als Minimum umzusetzen und unter Einbezug nationaler Umstände eigene Guidelines zu entwickeln. Die Empfehlungen der UEFA für Trainer lauten:
1.  Ballgrösse: Verwenden von angemessener Grösse und Gewicht der Bälle entsprechend der Alterskategorie (siehe «FIFA Youth Football Specification Recommendations»).
2.  Balldruck: Für Training und Wettkampf benutzen des niedrigsten Drucks, der gemäss Spielreglement erlaubt ist. Für die ersten Trainingsübungen stellen Schaumstoffbälle eine Alternative dar.
3. Anzahl Kopfbälle: Reduzieren des Kopfballtrainings soweit möglich unter Einbezug der Kopfballanforderungen im Match. Das ist besonders bei jüngeren Spielern wichtig. Das Ziel, die Anzahl an Kopfbällen zu reduzieren, kann durch verschiedene Regeländerungen erreicht werden: Reduktion der Spielfeldgrösse, weniger Spieler, Verkleinern der Torhöhe. Trainer sollten darauf hingewiesen werden, dass es wichtig ist, das Kopfballtraining in den verschiedenen Altersklassen graduell zu steigern.
4. Kräftigung der Nackenmuskulatur: Neuere wissenschaftliche Daten deuten darauf hin, dass die Kräftigung der Nackenmuskulatur im Kopfballtraining von Vorteil sein könnte, indem sie zu einer Reduktion der Krafteinwirkung auf den Kopf führt. Techniken, wie Krafttraining der Nackenmuskulatur erzielt werden kann, sollten in der Trainerausbildung beachtet werden und in Kopfball-Richtlinien eingeschlossen werden.
5. Bewusstsein für das Erkennen von Symptomen einer möglichen Gehirnerschütterung: Wenn Symptome wie Schwindel, Kopfweh, Gangunsicherheit usw. von Spielern geäussert werden im Anschluss an Kopfballtraining, sollen diese für eine Woche komplett pausieren mit ärztlichem Follow-up. Es ist zu bemerken, dass Mädchen empfindlicher sind in Bezug auf Gehirnerschütterungen und möglicherweise Kopfballbelastung im Vergleich zu Jungen.

Kritisch anzumerken ist hier jedoch z.B. Punkt 5. Sollten neurologische Symptome auftreten, muss zwingend eine rasche ärztliche Konsultation stattfinden. Und wenn die Diagnose Commotio cerebri gestellt wird, muss ein entsprechendes Return-to-School- und Return-to-Sport-Protokoll abgegeben werden anstelle der pauschalen Empfehlung von einer kompletten Woche Ruhe, was nicht mehr den aktuellen Return-to-Sport-Guidelines entspricht [15].
Zusammenfassend braucht es zusätzliche wissenschaftliche Arbeiten, um zu verstehen, was z.B. bei einem Kampf um den Ball in der Luft passiert, welche akuten und chronischen Effekte Kopfbälle haben (oder auch nicht haben) oder welche motorischen und visuellen Fähigkeiten wichtig sind, um eine saubere Kopfballtechnik zu lernen. Klare Evidenz, die ein Verbot des Kopfballspiels rechtfertigt, haben wir im Moment nicht, aber es ist unter der bestehenden Datenlage nicht falsch, eher den Weg der grösstmöglichen Sicherheit zu gehen.

Korrespondenz

Daniela Marx-Berger
Ostschweizer Kinderspital St. Gallen
Nephrologie/Sportmedizin
Leitende Ärztin
Claudiusstrasse 6, 9006 St. Gallen
Tel.: +41 (0)71 243 7111
daniela.marx-berger@kispisg.ch 

References

  1. http://www.fifa.com
  2. Matser EJ, Kessels AG, Lezak MD, Jordan BD, Troost J. Neuropsychological impairment in amateur soccer players. JAMA. 1999 Sep 8;282(10):971-3. doi: 10.1001/jama.282.10.971. PMID: 10485683.
  3. Matser JT, Kessels AG, Jordan BD, Lezak MD, Troost J. Chronic traumatic brain injury in professional soccer players. Neurology. 1998 Sep;51(3):791-6. doi: 10.1212/wnl.51.3.791. PMID: 9748028.
  4. Matser JT, Kessels AG, Lezak MD, Troost J. A dose-response relation of headers and concussions with cognitive impairment in professional soccer players. J Clin Exp Neuropsychol. 2001 Dec;23(6):770-4. doi: 10.1076/jcen.23.6.770.1029. PMID: 11910543.
  5. Koerte IK, Mayinger M, Muehlmann M, Kaufmann D, Lin AP, Stef­finger D, Fisch B, Rauchmann BS, Immler S, Karch S, Heinen FR, Ertl-Wagner B, Reiser M, Stern RA, Zafonte R, Shenton ME. Cortical thinning in former professional soccer players. Brain Imaging Behav. 2016 Sep;10(3):792-8.
  6. Lipton ML, Kim N, Zimmerman ME, Kim M, Stewart WF, Branch CA, Lipton RB. Soccer heading is associated with white matter microstructural and cognitive abnormalities. Radiology. 2013 Sep; 268(3):850-7. doi: 10.1148/radiol.13130545. Epub 2013 Jun 11.
  7. Feddermann-Demon, N. und Tarnutzer A.A., Effekte des Kopfballspiels auf Hirnfunktionen und – strukturen; https://www.srf.ch/sendungen/content/download/10125322/file/DFB Wissenschaftskongress 20Nov2015 NFAT-final.pdf
  8. Oliveira TG, Ifrah C, Fleysher R, Stockman M, Lipton ML. Soccer heading and concussion are not associated with reduced brain volume or cortical thickness. PLoS One. 2020 Aug 10;15(8):e0235609. doi: 10.1371/journal.pone.0235609. PMID: 32776940; PMCID: PMC7416951.
  9. Giannotti M, Al-Sahab B, McFaull S, Tamim H. Epidemiology of acute head injuries in Canadian children and youth soccer players. Injury. 2010 Sep;41(9):907-12. doi: 10.1016/j.injury.2009.09.040. Epub 2009 Oct 29. PMID: 19878944.
  10. Comstock RD, Currie DW, Pierpoint LA. An evidence-based discussion of heading the ball and concussion in high school soccer. In Ethics IsSLa,ed. Santa Clara University, 2015.
  11. Kontos AP, Braithwaite R, Chrisman SPD, McAllister-Deitrick J, Symington L, Reeves VL, Collins MW. Systematic review and meta-analysis of the effects of football heading. Br J sports Med 2017; 51:1118-1124.
  12. Putukian M, Echemendia RJ, Chiampas G, Dvorak J, Mandelbaum B, Lemak LJ, Kirkendall D. Head Injury in Soccer: From Science to the Field; summary of the head injury summit held in April 2017 in New York City, New York. Br J Sports Med. 2019 Nov;53(21):1332. doi: 10.1136/bjsports-2018-100232. Epub 2019 Feb 13. PMID: 30760457.
  13. Collins CL, Fletcher EN, Fields SK, Kluchurosky L, Rohrkemper MK, Comstock RD, Cantu RC. Neck strength: a protective factor reducing risk for concussion in high school sports. J Prim Prev. 2014 Oct;35(5):309-19. doi: 10.1007/s10935-014-0355-2. PMID: 24930131.
  14. UEFA Heading Guidelines for Youth players; http://www.uefa.com/
  15. McCrory P, Meeuwisse W, Dvorak J, et al. Consensus statement on concussion in sport – the 5th international conference on concussion in sport held in Berlin, October 2016 British Journal of Sports Medicine 2017; 51:838-847.

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